Hamsterrad oder Karriereleiter?

Steuerung, dieses Wort kennen viele Menschen nur in Zusammenhang mit technischen Prozessen. Vielleicht denken sie dabei an Autos oder an Flugzeuge. Was die Worte Selbststeuerung und Selbstregulation bedeuten, ist nur einer kleinen Minderheit bekannt, obwohl damit sehr wichtige Dinge unseres Lebens verbunden sind. Was also ist damit gemeint? In den ersten zwei, drei Lebensjahren lernt ein Kleinkind sich selbst schrittweise zu regulieren und zu steuern. Es erlebt seine Selbstwirksamkeit und freut sich daran. Manche von uns erinnern sich gut an ihre frühkindlichen Mutproben, an das laut und stolz hinaus posaunte „selber“! Die Qualität dieser Fähigkeit wird durch die Entwicklung von Ich-Bewusstsein und Gehirnreifung bestimmt, vor allem aber durch die Qualität der Bindung und des Kontaktes zu unseren Eltern. 

 

Die Art und Weise, wie Individuen sich innerlich steuern, hat große Auswirkungen auf den menschlichen Organismus, seine Psyche und die soziale Umwelt.  Je nach dem, wie gut wir unser inneres Vehikel beherrschen und wie gekonnt wir es führen, sieht die Lebensroute für uns aus. Und die zeigt uns, wie glücklich wir sein können, wie viel Stressresistenz wir haben, wir gut wir Impulse regulieren können und wie stark wir auf stressige Reize reagieren. Dadurch bestimmt sie auch, wie gut wir sozial interagieren können und wie viel Überblick wir behalten, wenn Anforderungen an uns gestellt werden. Eine gute Selbstregulation zu haben, sich selbst innerlich steuern zu können, bedeutet wählen zu können, sich wohl in der eigenen Haut zu fühlen, neugierig zu sein, sich über das eigene Leben freuen können, auf eine ausgewogene Vielfalt an Gefühlsqualitäten zugreifen zu können. Es bedeutet, im eigenen Leben Regie zu führen, ICH-sein  können und einen klaren eigenen Willen zur Verfügung zu haben. 

 

Wenn wir nicht so recht wissen, wer wir sind und was wir wollen,  leben wir reaktiver und haben das Gefühl, dass das Leben uns steuert und wir immer nur auf Anforderungen von Außen reagieren. Wir leben in einem permanenten Gefühl der inneren Anspannung und sind im Funktionsmodus gefangen. Dadurch, dass wir oft auch unser Körpergefühl verloren haben, fällt uns und anderen dies gar nicht so auf. Mit der Zeit breiten sich jedoch Unzufriedenheit, Enttäuschung und vielleicht körperliche Symptome in unserem Leben aus. Bleiben wir zu lange im Funktionsmodus, dann fühlen wir uns erschöpft, ausgebrannt und freudlos. Vielleicht landen wir irgendwann im BurnOut, vielleicht bleiben wir auch Jahre in diesem Zustand stecken. Die innere Ausrichtung ist dann, weiter funktionieren zu müssen. Menschen sind den ganzen Tag darauf angewiesen sich innerlich zumindest so zu regulieren, dass sie in einem guten „Funktionsmodus“ bleiben können. In diesem Modus spüren wir uns zwar kaum, können aber unseren Aufgaben nachkommen. Schaffen wir es nicht mehr, uns aus uns selbst heraus zu steuern, dann greifen wir auf äußere Ressourcen zurück. Wir suchen dann unser Heil im Kontakt. Wir greifen auf die älteste Möglichkeit der Regulation zurück, die wir schon als Baby gelernt haben. Bei Stress hilft der Kontakt mit Mama. Auch als Erwachsene greifen wir auf diese Möglichkeit zurück. Wir suchen Kontakt, in dem wir mit jemanden sprechen, eine Freundin anrufen oder unsere Beziehungspartner aufsuchen. Manchmal reicht sprechen jedoch nicht und wir suchen Körperkontakt. Wir wollen in den Arm genommen werden oder uns mal bei jemandem vertrauten im Arm ausweinen. Meist sieht die Welt dann schon anders aus und wir können uns beruhigen und neue Perspektiven einnehmen. Für manche Menschen ist es allerdings innerlich nicht möglich mit ihrem inneren Leidensdruck zu anderen Menschen hin zu gehen. Dies liegt daran, dass sie es verlernt haben, um Hilfe zu bitten.

Für einige Menschen, die sehr unsichere Bindungen erlebt haben, ist es schier unvorstellbar, dass jemand anderes für sie da sein mag und es ist noch unvorstellbarer bei jemandem im Arm zu liegen und sich halten zu lassen. Dadurch, dass sie dies nie erlebt haben, liegt diese Erfahrung außerhalb ihres Vorstellungsbereichs. Sie müssen bzw. können dies aber nachlernen, wenn sie auf Menschen treffen, für die es selbstverständlich ist, jemanden in den Arm zu nehmen. Dann gibt es noch diejenigen, die sich im Laufe ihrer Kindheit entschieden haben (meist ist dies eine unbewusste Entscheidung), niemanden mehr zu brauchen. Diese Entscheidung ist meistens das Resultat davon, dass sie als Kinder von ihren Eltern gedemütigt oder zurückgewiesen worden sind, wenn sie nicht alles alleine konnten. Oder sie haben gelernt, dass sie dann überwältigt worden sind, sie hatten das Gefühl für jede „Schwäche“ einen Preis zu zahlen. Dies geschieht zum Beispiel, wenn ein Kind um Hilfe bittet, weil es eine Rechenhausaufgabe nicht versteht und sich dann eine Bezugsperson dazu setzt und dem Kind erst einmal erklärt, was es alles falsch gemacht hat und wie begriffsstutzig es ist. Erfährt das Kind immer wieder, dass es entmündigt und entwertet wird, wenn es um Hilfe bittet, dann wird es meist irgendwann nicht mehr fragen.

Irgendwann in der Kindheit  entscheiden wir uns (natürlich unbewusst) zwischen dem Schutz unserer Würde oder dem unbedingten Aufrechterhalten der Beziehung zu den Eltern. Denken Sie einen Moment nach: Wenn Sie Streit mit Ihrem Partner oder Ihrer Partnerin haben, ziehen Sie sich dann zurück oder werden aggressiv oder bemühen Sie sich ganz intensiv, den Bruch wieder zu kitten? Menschen, die Ihre Würde schützen, zahlen oft einen hohen Preis, da sie in die Autonomie flüchten. Sie schneiden sich ab von tiefen Beziehungen, verleugnen ihre Bedürfnisse, damit sie nie mehr jemanden brauchen und sich womöglich abhängig fühlen könnten. Geschieht dies sehr stark und absolut bei Kindern, so haben die Eltern oder Pädagogen irgendwann keinerlei Einfluss mehr auf das Kind. Es wird jedes Beziehungsangebot abwehren und für viel Ärger sorgen.

Menschen, die immer für die Beziehung ins Rennen gehen, zahlen natürlich auch einen Preis: Manchmal ihre Würde. Sie bleiben zu lange und versuchen zu lange zu reparieren und die andere Person wieder in Beziehung zu bringen. Letztendlich kämpfen sihier gegen ihre Angst vor dem Alleinsein, vor dem verlassen werden. Diese Angst ist so stark, dass dem vieles geopfert wird. Irgendwann muss man sich dieser Angst stellen, damit man neue Handlungsmöglichkeiten entwickeln kann und auch die eigene Würde schützen kann. Die Gesundheit liegt auch hier nicht im Entweder-Oder, sondern im Sowohl-als-Auch. Es geht darum in Kontakt und tiefe Verbindung gehen zu können, um Hilfe bitten zu können UND auch alleine für sich sorgen zu können und zur Not auch Kontakte abzubrechen, die einem nicht gut tun. Es ist mir wichtig klarzustellen, dass kein Mensch sich immer vollkommen allein bestens regulieren kann.  Ab einem bestimmten Grad der Fehlsteuerung sind wir darauf angewiesen, dass wir uns an einen anderen Menschen anbinden können, um uns über diesen neu zu regulieren. Wir brauchen einander!

Wenn wir in unseren frühen Bindungsbedürfnissen traumatisiert worden sind, dann benötigen wir eine ganze Zeit lang die Hilfe anderer Menschen. Selber, also ganz alleine, so wie es Münchhausen tat, können wir uns nicht aus dem Traumasumpf herausziehen. Wir brauchen dazu ein oder mehrere DU’s, wir brauchen Therapie. Therapie heißt Begleitung. Das ist keine Schande, sondern einfach eine Tatsache des Lebens. Indem sich jemand in uns einfühlt, uns versteht: Wir regulieren uns, wenn wir das Gefühl haben, jemand ist für uns da, ohne dass wir etwas tun müssen oder irgendwie sein müssen. Dann kommen wir zur Ruhe und können wieder zu uns selbst kommen. Wir kommen wieder in uns an und können uns neu orientieren. Wir können aus dem Funktionsmodus aussteigen und ins Leben einsteigen. Und wir erkennen dann den himmelhohen Unterschied zwischen Überleben und Leben.